Der Gipfel

Ein schöner Sommerabend in Göteborg. Ein paar Tage vor Mittsommer. Warm. Hell.

Im größten Untersuchungsgefängnis Westschwedens – untergebracht in den oberen Etagen des Polizeipräsidiums – herrscht Ruhe. Die Beamten machen Pause und trinken Kaffee. „Fika“ heisst das auf Schwedisch. Einen schönen Blick über die Stadt hat man von hier oben: man erkennt den Dom, den Turm der deutschen Christinenkirche, den Uhrenturm der Seefahrtsschule und direkt gegenüber liegt das Ullevi-Stadion, wo Leichtathletik-WM und Fußball-EM stattfanden. Auf zwei Etagen sind hier fast 200 Gefangene untergebracht. Die Zellen sind eigentlich als Einzelzellen gedacht, werden in der Regel aber mit 2 Gefangenen belegt, die hier auf ihr Hauptverfahren oder die Rechtsgültigkeit ihres Urteils warten müssen. In den ersten vier Etagen des Gebäudes residiert praktischerweise die Polizei.

Die Justizvollzugsbeamten genießen den Sommerabend, der Dienst ist ruhig. Die Gefangenen sind im „Einschluss“. Plötzlich Bewegung vor dem vergitterten Fenster: erst ein Seil, dann ist schemenhaft ein Mensch zu erkennen, dunkel gekleidet. Ein zweites Seil. Die Beamten springen auf, greifen nach ihren Waffen, drücken auf den Alarmschalter. Ein Ausbruch!! Sirenen heulen. Das Gebäude wird abgeriegelt. Shutdown! Das SEK rollt los, Feuerwehr und Krankenwagen rasen heran. Schwer bewaffnete Polizei sperrt das Gebäude ab, stürmt aufs Dach, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Auf dem Dach dann das große Staunen: ganz oben in der hohen Antenne des Polizeipräsidiums, am allerhöchsten Punkt hockt ein Mensch – der Kletterer. Gekleidet in Shorts und T-Shirts. Er strahlt triumphierend. Stolz. Reckt den Arm in die Höhe. Das SEK holt den Mann von der Antenne, wirft ihn zu Boden, legt Handfesseln an, und in wenigen Minuten ist der Spuk vorbei: der Mann landet selbst in einer Zelle.

Am nächsten Tag dann der Gerichtstermin. Staatsanwalt und Polizei laufen zu Hochtouren auf und präsentieren dem Richter ihre Ermittlungen: der Mann ist Österreicher, Tourist. Er öffnete den Bauzaun auf der Rückseite des Polizeipräsidiums und kletterte die Fassade HINAUF. Freihändig, nur notdürftig gesichert mit einem Seil. Auf dem Dach des Gebäudes erklomm er danach die riesige Funkantenne, die sich Polizei und Rettungsdienst teilen. Der Staatsanwalt ist aufgebracht: Eindringen in ein sog. „Schutzobjekt“ und in einen Sicherheitsbereich von nationaler Sicherheit – „Rikets Säkerhet“. Hausfriedensbruch, dann das Schlimmste: 3 Sprossen sind von der Antenne abgebrochen, als der Mann ganz nach oben wollte. Sachbeschädigung eines für Rettungsdienst und Polizei absolut notwendigen Kommunikationsmasts. Ich sitze neben dem Angeklagte, übersetze ihm die Anklageschrift und die Sachdarstellung des Staatsanwalts.

Der Richter fragt nach: ist der Mann denn wirklich in das Gebäude eingedrungen? Hat er etwas gestohlen? Demoliert? War es eine politische Demonstration? Ein Befreiungsversuch? Konnte der Mann überhaupt erkennen, dass er das Polizeipräsidium bestieg?

Ratlosigkeit breitet sich im Gerichtssaal aus. Der Richter wendet sich an den Angeklagten und fordert ihn auf, seine Version auszusagen: Ja, der Mann stammt aus Österreich. Klettern ist seine große Leidenschaft. Er klettert freihändig so hoch, wie er nur kann. Auf den „Gipfel“ – den höchsten Punkt seiner Umgebung. Egal, ob Stadt oder Land. Er muss einfach hinauf. Genießt die Freiheit, höher zu sein als alle anderen. Nein, er hatte nicht verstanden, dass er auf das Polizeipräsidium klettert. Das Haus ist einfach toll, ein wunderbarer Aussichtspunkt. Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Nichts war geplant. Das Seil hatte er im Kofferraum….. zufällig. Er war am Morgen des Tages erst mit der Fähre in Göteborg angekommen. Und dann sah er das mehrgeschössige Präsidium mit seiner wunderbar hohen Antenne….

Der Richter bittet Staatsanwalt und Verteidiger zu sich nach vorne. Die drei stecken ihre klugen Köpfe zusammen. Danach ein kurzes Gespräch, das ich für Verteidiger und Klettermaxe übersetze: hat der Kletterer Bargeld oder eine Kreditkarte, um die Reparatur der Antenne zu bezahlen? Immerhin sind ja drei Sprossen abgebrochen…… ja, das würde gehen. Der Verteidiger spricht mit dem Richter. Der wiederum ermahnt den Kletterer und fordert ihn auf, nach Ende der Verhandlung seine Bankdaten zu hinterlassen oder besser noch  eine Anzahlung für die Reparatur zu leisten. Der Österreicher stimmt zu. Der Richter ermahnt den Angeklagten eindringlich, weitere Klettertouren in Schweden zu unterlassen und sich doppelt zu vergewissern, was man eventuell besteigen darf und was nicht. Das Seil wird eingezogen. Bald ist Mittsommer.

P.S. 2015 wurde neben dem Polizeipräsidium ein neues Untersuchungsgefängnis errichtet. Ausbruchsicher. Voller Hightech. Ohne Antenne. Besteigen unmöglich … angeblich.